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Thomas Dollinger


 

(Sept. 2012) Daheim oder Heim? Wer baut denn schon barrierefrei?

Menschen mit Behinderung sieht man nicht so viele in der Öffentlichkeit. Manchen sieht man ihr Handicap einfach nicht an, wie bei einem stark Sehbehinderten oder einem Beinamputierten mit Prothese. Andere trauen sich einfach nicht vor die Tür, weil die Wege vor der Wohnung zu schlecht sind oder weil sie sich den Blicken der Passanten nicht aussetzen wollen.

Dabei wäre gerade das wichtig! Zu schnell ist es passiert, dass die bisherigen Zukunftspläne komplett geändert werden müssen. Unfall, Krankheit, Schlaganfall… Das kommt nicht erst mit dem Alter, sondern kann jederzeit und jeden treffen.

Und dann steht für viele die Frage im Raum… Daheim oder Heim? Da ich selbst Rollstuhlfahrer bin, kann ich die Situation gut beurteilen. Daheim – das geht in vielen Fällen einfach nicht mehr. Oft nicht deshalb, weil hier keine eventuell benötigte Hilfe oder Pflege angeboten wird (im Gegensatz zum Pflegeheim ist die häusliche Versorgung durch einen Pflegedienst sowieso meist günstiger und Pflegedienste gibt’s fast überall), sondern weil die Wohnsituation nicht mehr passt.

Denn wer baut heute schon barrierefrei? Schmale Türen, überall Stufen und Treppen – vor der Haustür, hoch ins Schlafzimmer und manchmal sogar innerhalb einer Etage der Wohnung… Jeder scheint beim Hausbau zu denken: „Mich wird es schon nicht treffen.“ Aber nur wenige Menschen haben das gesundheitliche Glück eines Jopie Heesters. Irgendwann passiert es dann vielleicht. Auf dem Weg zum Bäcker fährt mich ein Auto an, oder ich sitze am Klo, drücke – und mir platzt ein Aneurysma. Was sich anhört wie ein Witz, ist tatsächlich eine häufige Ursache bei Schlaganfällen. Vielleicht passiert es auch meinem Partner – oder meinem Kind?

Dann gilt es häufig, eine neue Wohnung zu finden, die barrierefrei ist. Ich wohne mit meiner Frau in einer Kleinstadt in Bayern. Wir suchen bereits seit fünf Jahren eine passende barrierefreie Wohnung. Unsere Kriterien bei der Suche sind nicht hoch. Ohne Stufen oder Schwellen, ebenerdig oder mit Aufzug oder Rampe, Türen ausreichend breit und mindestens 75m² auf drei Zimmer.

Tja… Es ist ja nicht so, dass es prinzipiell keine barrierefreien Wohnungen gäbe. Nur kann sich anscheinend niemand einen behinderten Menschen mit Partner oder gar Familie vorstellen. Bei allen Angeboten innerhalb der Stadt handelt es sich um maximal 50m² große 2-Zimmer-Wohnungen. Ein Doppelbett, ein Sofa, ein Tisch… und schon kommt man mit dem Rollstuhl nicht mehr durch.

Vor ein paar Monaten haben wir erfahren, dass ein barrierefreies Haus im Zuge eines Wohnprojektes in unserer Stadt entstehen soll. Alle Wohnungen sollen barrierefrei sein. Unsere anfängliche Freude war schnell wieder verraucht, als uns auf Anfrage mitgeteilt wurde, dass auch diese Wohnungen nur 50m² haben werden.

Es scheint, als hätte unsere Gesellschaft keinen Platz für Familienmitglieder mit Handicap. Hat Papa mit 30 einen Motorradunfall, kann er ja umbauen lassen. Kann er es sich nicht leisten, kann er ja ins Heim. Und wenn Mama dann mit 40 MS hat, bekommt sie vielleicht sogar das Nachbarzimmer!

Jetzt mal im Ernst… Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt stetig an. Die Weltbevölkerung wächst schnell. Glauben wir wirklich, dass wir weiterhin mit so wenigen barrierefreien Wohnungen auskommen? Also ich nicht!

Thomas Dollinger

 

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